Brahmanismus

Brahmanismus (v. sanskrit. Brâhmana, „Brahmane“, gebildet), europäische Bezeichnung der Religion der Hindu in Britisch-Ostindien, zu der sich an 150 Mill. Menschen bekennen (außerhalb Indiens hat sie keine Anhänger). Der B. beruht nicht auf dem System eines einzigen Mannes; er ist keine Reform, stellt sich nicht in Gegensatz zu frühern Ansichten, sondern ist das Produkt jahrhundertelanger Entwickelung. Seinen Ausgangspunkt bilden die Anschauungen, welche der in das Pandschab eingewanderte Zweig der Arier in der wedischen Periode über Naturerscheinungen und Götter gebildet hatte. Bestimmend für die religiöse Richtung, welche uns im B. entgegentritt, wurde ferner noch das Kastenwesen, dessen Ausbildung in die nachwedische Zeit fällt; es steht in innigem Zusammenhang mit dem B. und wurde mit diesem von der größten Bedeutung für die Gestaltung des indischen Staats. In den ((Weda))s (s. d.) haben wir noch kein abgeschlossenes Göttersystem vor uns; es treten uns hier lediglich noch die Anschauungen entgegen, von denen die Sänger der einzelnen Lieder beherrscht waren. Die Hauptgottheiten sind Naturgötter; Götter mit vorwiegend ethischer Bedeutung sind wenige, und ihre Stellung ist noch eine untergeordnete. Von einer Systematik der Götterlehre treten uns in den wedischen Liedern nur erst geringe Spuren entgegen, so die Unterscheidung von Göttern des Himmels, der Luft und der Erde; bestimmter ist sie bereits in den ältesten Kommentaren zum ((Weda)) ausgebildet. Erst die theologische Doktrin der ((Brahmanen)) (s. d.) strebte über die Schar der Naturgötter zu etwas Einfachem und Ideellem hin, teils anknüpfend an alt-arische Vorstellungen, teils auf spekulativem Weg; der eine führte zur Idee des ((Brahma)) (s. d.), der andre zur Annahme der Weltseele (Âtma). Mit der Weltseele, mit dem prädikatlosen „Das“ oder „Jenes“ (Awam, zusammengezogen in Ôm), wurde das ((Brahma)) identifiziert und damit die geheimnißvolle Macht des Gebets zum Urgrund der Natur erhoben. Im Glauben des Volkes hat diese Doktrin niemals lebendige Wurzel gefaßt; aber ihre Konsequenzen haben das ganze religiöse, politische und soziale Leben der Inder durchdrungen. Die wichtigste derselben ist die Emanationslehre: das ((Brahma)) als Weltseele schafft nicht die Welt, sondern entfaltet sich zu ihr. Je weiter es sich von sich selbst entfernt, desto unähnlicher wird es sich, daher das Dogma vom Weltübel; die Natur ist getrübtes ((Brahma)), daher voll Unvollkommenheit und Sünde, Schmerz und Leiden, Krankheit und Tod. Wie aber das All vom ((Brahma)) ausgeht, so kehrt es auch in dasselbe zurück: aus dieser Vorstellung ist die Lehre von der Seelenwanderung hervorgegangen. Alle Wesen, von der Weltseele ausgestrahlt, sollen auch in dieselbe heimkehren; diese Heimkehr ist zugleich ein Reinigungsprozeß, denn nur völlig von der Materie geläutert, können sie sich wieder mit dem ((Brahma)) vereinigen. In älterer Zeit galt die Annahme, jede Seele müsse die ganze Stufenleiter der Kreaturen durchmachen; in der spätern Auffassung hängt die Sphäre, in welcher die einzelne Seele wiedergeboren wird, von ihrem Verdienst und ihrer Verschuldung in frühern Lebensläufen ab. Die ärgsten Sünder sinken nach dem Tode dieses Leibes in eine unter der Erde gelegene Hölle hinab, und erst, nachdem sie hier alle Arten der Pein durch unermeßliche Zeiträume ausgehalten haben, beginnen sie aufs neue die Wanderung. Von der wesentlichsten Wichtigkeit für die Ausbildung der brahmanischen Hierarchie war das Kastenwesen, in welchem sie nach langen und hartnäckigen Kämpfen mit den Kschatrijas schließlich die erste und dominierende Stellung errang. Den Mitgliedern der vier Kasten ist nicht bloß im allgemeinen ihr Platz und Beruf von ((Brahma)) selbst angewiesen, sondern alle damit verbundenen Rechte und Pflichten, Gebräuche und Formen sind jedem Stand in einer geradezu zahllosen Menge von Vorschriften bis ins kleinste Detail hinein vorgeschrieben. Selbst die peinlichste Gewissenhaftigkeit muß daran verzweifeln, dieser unübersehbaren Menge von Vorschriften immer zu genügen; für jeden ist also stets die Gefahr der Versündigung oder Verunreinigung sehr nahe. Darauf hat der B. ein weitläufiges System von Reinigungen, Sühnen, Bußen und geistlichen Strafen aufgebaut, dessen Vollendung die Askese ist. Eine entschiedene Opposition gegen den B. ging von der Sânkhjaphilosophie und besonders vom ((Buddhismus)) (s. d.) aus. Letzterer unterlag schließlich in Vorderindien selbst dem B., aber nicht, ohne den letztern mit mancher fruchtbaren Idee zu durchtränken. Hierher gehört die mit dem Bedürfnis eines persönlichen Erlösers zusammenhängende Lehre von den Inkarnationen oder Avatâras des ((Wischnu)) (Vishnu) und andrer Götter; ferner die Vereinigung der beiden Volksgötter ((Wischnu)) und Siwa ((Shiva)) mit dem niemals volkstümlich gewordenen ((Brahma)) zu der theoretischen Einheit der ((Trimurti)) (s. d.). In den ((Purana))s wurde eine neue religiöse Litteratur geschaffen. Trotzdem kann dieser neuere B. nur als eine Epigonenzeit betrachtet werden, dem neue, schöpferische Gedanken fehlen, während das Volk immer mehr in groben Götzendienst versinkt. Die beiden Hauptkonfessionen der Wischnuiten und Siwaiten sind durch einflußreiche Lehrer und philosophische Richtungen in mehrere Schattierungen zerfallen; daneben sind Sekten aufgetreten, wie die Sâktas, die Ganupatjas, die mehr oder weniger von der bestehenden Form des B. abweichen. Der B. der Gegenwart stellt sich uns daher als eine unbestimmbare Zahl von sektierenden Parteien dar, die sämtlich die heiligen Werke der Vorzeit zur Basis ihrer Systeme haben, vor allen die ((Purana))s (s. d.), an eine Vielheit von Göttern, männlichen wie weiblichen, gütigen wie Schaden bringenden, glauben und in ihren täglichen, mit peinlicher Genauigkeit ausgeführten Zeremonien wie öffentlichen Feierlichkeiten (s. Ostindien) sich als ein zusammengehörendes Ganze zeigen. Die ((Brahmanen)), einst ausschließlich auch die Ratgeber der Fürsten, üben jetzt das Amt des Purôhita („Vorbeters“) mit Angehörigen andrer Kasten aus; der Vorbeter wird bei Geburten, Heiraten und Todesfällen beigezogen. Reiche Familien unterhalten ihren eignen Purôhita, der dann zugleich der Vertraute und Lehrer der jüngern Familienglieder ist. Der Priester des Volkes ist zum Wahrsager herabgesunken; er nimmt gleich dem Pudschari oder Tempeldiener eine untergeordnete Stellung ein. Der Inder besucht den Tempel der Heiligkeit des Orts, seiner Heilwirkungen etc. wegen; einen Altargottesdienst kennt der B. nicht. Nicht bloß die gewöhnlichen Opferungen, auch das heilig gehaltene Feueropfer, die Opferung an die Manen u. dgl. können an jedem Ort vorgenommen werden und finden überall statt. Seit mehreren Dezennien zeigt sich unter den ((Brahmanen)) die Tendenz, die moralischen und deistischen Grundsätze ihres Glaubens in philosophischen Spekulationen, zu denen der Inder viel Anlage hat, auszubilden, dagegen den Fabeln in ihren heiligen Schriften weniger Wert beizulegen. Die Anregung zu dieser Richtung gab Ram Mahun Roy (s. Brahmo Samadsch), der 1814 zu Kalkutta als Reformator auftrat und auch mit dem Christentum sich bekannt machte; ja, einige seiner Nachkommen tragen offen das Bestreben zur Schau, in den B. christliche Ideen hineinzutragen (vgl. den Bericht über Keschab Tschander Sens Vorträge im „Magazin für die Litteratur des Auslandes“ 1870, S. 407). Das schädliche Kastenwesen, das zur Zeit noch vom B. getragen wird, würde durch einen Erfolg in dieser Richtung leichter beseitigt werden. Vgl. Lassen, Indische Altertumskunde (2. Aufl., Leipz. 1867 ff., 4 Bde.); Dubois, The character, manners, customs and institutions of the people of India (Lond. 1817, 2 Bde.); Wurm, Geschichte der indischen Religion (Basel 1874); Barth, Les religions de l’Inde (Par. 1879).

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